Märchen-erzählen jenseits tümelnder Heimatgefühle
Angelika B. Hirsch (Berlin) und Conchi Vega (Zürich) ziehen Zwischenbilanz zu ihrem Podcast
Angelika: Conchi, mit dem großen Titel „Märchenerzählen – Kulturelles Erbe gestern, heute und morgen“ haben wir uns für unsere Podcastserie ganz schön was aufgehalst. Inzwischen haben wir acht Folgen veröffentlicht. Wie sieht deine Bilanz aus? Bewirken wir außer Begeisterung fürs Märchen und Märchenerzählen bei unseren Hörerinnen und Hörern auch Reflexionen über die komplexen Themen Heimat, kulturelles Erbe?
Conchi: Begeisterung für das Märchen und das Märchenerzählen bewirken zu können, finde ich, ist schon sehr viel. Meine Erfahrung ist: Wenn ich erzähle, dass ich Märchenerzählerin bin, antworten die Erwachsenen meistens mit „Jöh! So herzig!“ und stecken das Märchen sofort in die Kinderstuben.
Die Idee des Podcastes ist ja, das Märchen und Märchenerzählen an seinen ursprünglichen Platz zu heben, den Zuhörenden aufzuzeigen, dass die Märchen nicht herzige Kindergeschichten sind, sondern Erzählungen, die uns Menschen, Kindern UND Erwachsenen, etwas angehen.
Die Märchen, die wir gewählt haben, stammen sowohl aus der Sammlung der Brüder Grimm, wie auch aus anderen Kulturräumen und Ländern. In ihnen sind Kultur, Werte und Traditionen des jeweiligen Landes gesammelt, die es wert sind, an künftige Generationen weiter gegeben zu werden, weil sie eine kulturelle Bedeutung haben. Somit können wir sagen, dass in den Märchen Heimat steckt, weil sich die Menschen darin wieder finden.
Doch heute leben wir in multikulturellen Gemeinschaften. Wie, glaubst du, kann sich jemand aus einem anderen Kulturraum in einem Grimm Märchen wiederfinden?
Angelika: Ha, genau das zeichnet Märchen aus! Sie erzählen zuerst über allgemein Menschliches, dass jeder Mensch auf der Welt kennt: die Herausforderung des Erwachsenwerdens, seinen Platz im Leben finden, Krisen bewältigen …
Und das Gewand – so nenne ich es immer – in das die Geschichte eingekleidet ist, ist dann „kultürlich“, heimatverbunden, eigen: Die Geschichte von „Amor und Psyche“ norwegisch oder griechisch gekleidet. Der Froschkönig deutsch oder schottisch gekleidet. Das sind dann die Nuancen der Handlung, die variieren und durchaus erkennbar Verschiedenes ergeben.
Aber es ist auch die Sprache. Unsere Muttersprachen sind ja etwas extrem Heimatliches. In den Märchen sind viele Worte aufbewahrt, die im Alltag gar nicht mehr vorkommen. Ich erlebe immer wieder, wie gerade Kinder diese ungewöhnlichen Worte genießen, geradezu sammeln. Und auch Erwachsene sagen oft etwas über die „schöne Märchensprache“. Also allein mit der Sprache der Märchen schaffen wir Heimatverbundenheit und erschließen ganz nebenbei tiefere Schichten!
Als wir den Podcast aufgenommen haben und du den „Kuhreihen“ eingebracht hast, haben wir uns danach in der Pause ewig über Sprache unterhalten, den Wortlaut dieses magischen Gesangs, die Wirkung – du hast ihn mir sogar vorgesungen! Und ich war in meiner Zuneigung zu deinem Schwiezerdütsch wieder einmal ganz gefangen. Wir beide erleben doch, dass allein durch unsere verschiedenen Dialekte jeweils etwas Neues, Spezifisches entsteht, oder?
Conchi: Oh ja. Jede Sprache hat ihre eigene Melodie, in der wir beheimatet sind, in die wir hineingeboren werden. Schon im Bauch der Mutter hören wir ihre Stimme und die Geräusche der Welt. Ab der 22. Woche kann der Fötus ja schon hören. Wir könnten sagen, dass wir im Bauch der Mutter unsere zukünftige Heimat schon hören können und dazu vorbereitet werden.
Beim Märchen, „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ hat mich schon immer das Thema der Stimme beeindruckt. Die jungen Geißlein erkennen die Stimme ihrer Mutter und der Wolf muss sich mächtig anstrengen, um die Geißlein auszutricksen. Ich kenne eine afrikanische Variante dieses Märchens, kann leider gar nicht sagen, woher genau sie stammt. Da spielt ein Krokodil die Rolle des Wolfes; es will drei Kinder verschlingen. Das Krokodil muss sich dafür die Zunge abschneiden, das Maul zu nähen und die Zähne ausreißen lassen, damit es wie die Mutter der Kinder klingt. Und dazu muss es dann auch noch den Satz der Mutter, den sie immer spricht, bevor die Kinder ihr die Türe aufmachen, mit dieser Verkrüppelung aufsagen üben. Erst dann meinen die Kinder im Haus, die Mutter steht vor der Tür und machen diese auf. Doch draußen steht das Krokodil und verschlingt zwei von ihnen. Die Kinder können nur das Gehör zu der Erkennung der Mutter benutzen. So wie sie es aus der Zeit im Bauch der Mutter kannten.
Dieses Märchen ist so archaisch und gleichzeitig viel grausamer als die Grimm Variante. Und hier, sind wir doch wieder beim berühmt-berüchtigten Thema der Grausamkeit im Märchen gelandet. Können wir uns erlauben solche Märchen zu erzählen? Dürfen wir den großen Kulturschatz der Märchen noch so erzählen oder sollen wir die Erzählungen ändern und das Schreckliche rausnehmen oder abmildern?
Angelika: Kurz knapp? Nein! Natürlich muss ich schauen, welches Märchen für Kinder welchen Alters geeignet ist. Aber Märchen spiegeln die Welt. Und unsere Welt ist insgesamt kein bisschen weniger schrecklich geworden. Auch wenn wir selbst gerade in Wohlstand und Frieden leben: jedes Kind weiß oder ahnt zumindest, dass es mit dem Einbruch des Bösen genauso schnell wie im Märchen gehen kann.
Außerdem sind alle unsere Kinder – jetzt bin ich wieder ganz bei unserem Thema – in mehr oder weniger starkem Maße mit Kindern konfrontiert, die ihr Heimatland verlassen mussten. Krieg, Armut, Verfolgung und Not schwappen in jedes unserer Kinderzimmer. Gerade mit Märchen kann man diesen latenten Schrecken auffangen, ihm eine Gestalt geben, ihn gemeinsam mit den Märchenhelden besiegen. Erzählen wir einander unsere vertrauten Märchen, dann überwinden wir nicht nur Sprachbarrieren. Wir stellen einander unsere Überlieferung, die poetische Seite unserer Sprachen vor, öffnen die inneren Türen und zeigen einander sehr „Heimatliches“. Das hilft uns allen!
Conchi: Dann könnten wir doch sagen, dass das Märchenerzählen das gemeinsame Erbe der Menschheit ist. Beim Erzählen eines Märchens vor Publikum entsteht eine Gemeinschaft, die in die Erzählung eintaucht. Gemeinsam gehen alle durch die archaische Bilderwelt des Märchens und erleben bekannte und unbekannte Gefühlswelten, die ausgetauscht werden können. Es eröffnen sich, wie du sagst, neue Räume und gleichzeitig Verständnis für Unbekanntes auf poetische Weise.
Dies könnte die Relevanz des Märchens heute sein. Wir brauchen Erzählungen, die den Menschen vom Gemeinsamen und vom Überwinden der Gegensätze erzählen. Wie ein leckeres Buffet, auf dem die Spezialitäten aller Länder zu kosten sind. Alles schmeckt verschieden, riecht anders, sieht unterschiedlich aus. Es gibt Bekanntes und Neues zu entdecken. Doch es ist einfach lecker und macht satt.
Angelika: Mir fällt gerade noch ein gutes Vorbild für uns ein, Conchi. Ich habe mich in letzter Zeit sehr mit Lisa Tetzner beschäftigt, der Erzählerin, Märchensammlerin und Herausgeberin, die gegen Ende des 1. Weltkriegs begann, in ihrer Thüringer Heimat umherzuziehen und „Kindern und Leuten aus dem Volke“ Märchen zu erzählen. Sie hat ganz selbstverständlich Märchen anderer Völker ebenso erzählt, wie deutsche Märchen. Ihre erste, absolut unschuldige Märchensammlung „Vom Märchenbaum der Welt“, in der Märchen aus aller Welt friedlich nebeneinander stehen, gehörte dennoch zu den Büchern, die bei der Bücherverbrennung auf dem Scheiterhaufen landeten!
Die Nationalsozialisten wollten die „deutsche Kultur“ einzäunen, „rein“ halten, sich von anderen abgrenzen, das Eigene – Märchen gehörten ausdrücklich dazu – hoch über das Fremde stellen. Dieses Ansinnen ist verrückt, bei Märchen aber auch einfach dumm. Denn ihnen liegt das Wandern ja in der DNA. Gute Geschichten müssen und wollen weitererzählt werden, über Grenzen hinweg. Ich habe „meinen Grimm“ erst im Spiegel der Märchen anderer Völker so richtig verstehen und heiß lieben gelernt. Du hast es mit deinem Bild genau getroffen: Wir hauen uns am Welt-Märchen-Buffet lieber die Herzen und Hirne voll, statt in Heimattümelei zu versinken.