Mitlesen! – Eine Poetik des Publikums
von Jennie Bohn und Dominik Renneke
Annette von Droste-Hülshoff ritzte um 1810 ein Zitat von Schiller in ein Fenster auf Burg Hülshoff, dem Ort, an dem sie 1797 geboren wurde. 225 Jahre später schauen sich Workshop-Teilnehmer*innen der Jungen Burg diese geritzten Verse an und zeichnen und schreiben gemeinsam mit der Lyrikerin Lina Atfah und dem Bildenden Künstler Josef Knoll eine Graphic Novel zum Thema Freiheit(en). Ausgestellt sind die Arbeiten der jungen Menschen zwischen 14 bis 16 Jahren in der Jungen Digitalen Burg, die im Netz für alle rund um die Uhr zugänglich ist und auch mit einer VR-Brille besichtigt werden kann.
Von Fensterritzungen über Graphic-Novel-Workshops zu Digitalen Welten
Die Annette von Droste-Hülshoff-Stiftung ist Trägerin des 2018 gegründeten Center for Literature. An den Lebensorten der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, der Burg Hülshoff und dem Haus Rüschhaus, gestaltet das CfL Programm mit und für Menschen. Dabei spielt das Publikum eine wesentliche Rolle. Unter dem Titel mitlesen! Partizipative Literaturformate erproben Partizipierende gemeinsam mit Künstler*innen neue Praxen der Zusammenkunft, entwickeln neue künstlerische Formate und beleben so die historischen Orte.
Zwischen Audio-Walk, Fensterritzung und Installationen, Workshops, Performance und Konzerten schwebt die Frage: Wie kann Literatur – und kulturelles Erbe – öffentlich verhandelt und somit zugänglich und erlebbar gemacht werden? Seit fünf Jahren erforscht das CfL also in verschiedenen Formaten, was es bedeutet, das Erbe einer weiblichen Dichterin zu vermitteln und vor allem, welche Rolle das Publikum dabei spielen kann – oder spielen muss.
Das Publikum hat sich in den letzten Jahren verändert. Es will nicht nur zum Zuhören und Zuschauen eingeladen werden. Es will auch mitmachen, mitlesen – und das auch aus dem digitalen Raum heraus. Es hat sich zudem gezeigt, dass es das Publikum gar nicht gibt. Es sind viele Publika, die sich an den Orten des CfL versammeln.
Unter dem Begriff Poetik des Publikums erforscht das CfL, wie literarische Veranstaltungen einen öffentlichen Raum des Dialogs schaffen können und welche Impulse das Publikum geben kann: Einen Kodex? Der Wille nach Mitgestaltung? Oder die sanften Hinweise zu verschiedenen Lesarten von Texten bei Mitleserunden?
In einer Poetik des Publikums wird der Ort maßgeblich vom Publikum mitgestaltet. Es entsteht ein öffentliches Forum, das zu einem lebendigen Austausch über Text und all den gesellschaftlichen Ambivalenzen einlädt. Ausgehend von Texten der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, aber auch der den Orten eingeschriebenen Familiengeschichte verhandeln Partizipierende Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Mehr zur Arbeit und Ausrichtung des CfL hier im Podcast.
Das CfL baut involvierende Räume und lädt Menschen ein, teilzuhaben – also: gemeinsam zu lesen, zu schreiben, zu performen. Das Programm soll nicht einfach nur präsentiert werden, sondern gemeinsam mit interessierten Teilnehmer*innen entwickelt werden. Partizipation soll die Distanz zwischen Künstler*innen, die auf der Bühne sitzen und lesen, und dem Publikum, das zuhört, verkürzen. Damit ein offener Ort für Dialog entsteht, kommen am CfL Künstler*innen regelmäßig mit dem Publikum ins Gespräch. Dieser Austausch findet im Analogen sowie in digitalen Welten statt. Alle sind eingeladen, ohne Vorwissen, eine solchen Dialog, eine solche Poetik des Publikums zu erfinden und zu feiern.
Digitale Burg
Mit der Digitalen Burg entstand ein barrierearmer Ort im Internet, der das Programm des CfL um partizipative Möglichkeiten erweitert. Die Digitale Burg kann einem diversen Publikum Teilhabe ermöglichen, da Teilnehmer*innen Themen und Prozesse ortsunabhängig begleiten können. Das können die physischen Orte aufgrund der Lage und der denkmalgeschützten Bausubstanz (noch) nicht. Zudem ist es möglich, diese Prozesse auch passiv zu begleiten – Besucher*innen können lurken.
Der Begriff Lurker*in ist im Netzjargon eine Bezeichnung für passive, also nur lesende Teilnehmer*innen eines Internetforums. Sie lesen lange mit, bevor sie aktiv in ein Geschehen eingreifen. Dabei können sie aber weiterhin anonym bleiben. In den letzten Jahren ist offensichtlich geworden, dass Barrieren nicht nur steile Treppen oder eine fehlende Übersetzung in Deutsche Gebärdensprache ist, sondern auch Räume, Sprachen, Codes, Zugehörigkeiten als Barrieren verstanden werden können. An diesem Punkt wird eine unsichtbare Teilnahme im Internet interessant. Durch das lurken kann eine Annäherung an Themen, Sprachen und Codes passieren, die Befürchtungen vor nicht-Wissen abbauen und so wiederum zu einer sichtbaren Präsenz im digitalen oder analogen Raum führen kann.
Die Lesebürger*innen – intergenerationelle Teilhabechancen
Im Jahr 2018 gründeten sich die Lesebürger*innen auf Burg Hülshoff – Center for Literature. In den letzten fünf Jahren sind sie im Zuge der neuen Digitalen Welt(en) über die Grenzen des Münsterlands hinausgewachsen, sind zwischen 20 und 80 Jahren alt, arbeiten also intergenerationell und haben zahlreiche Projekte gestaltet – Podcasts, Spaziergänge, Blogs und vieles mehr. Die Gruppe ist immer offen für neue Teilnehmer*innen, die bei einem Treff im Monat vor Ort oder digital vorbeischauen können.
Ein besonderes Beispiel intergenerationellen Arbeitens in partizipativen Projekten war die Dead Land Ladies Show. Drei Lesebürger*innen erzählten in einer Lecture Performance von toten Frauen aus dem Münsterland, die zu ihren Lebzeiten durch patriarchale Strukturen nicht die Anerkennung erfuhren, die ihnen zustand.
Kürzlich begann das Projekt Mapping Droste. Die Lesebürger*innen nehmen hier den ländlichen Raum zum Anlass und gestalten gemeinsam mit Expert*innen für digitales Mapping eine interaktive Karte. Auf dieser Karte werden Orte, an denen die Schriftstellerin Droste und ihre Familie wirkten, verzeichnet – ob als Text, als Video oder als Audio. Somit wird Alltagsgeschichte von Menschen aus der Region abseits von wissenschaftlichen Kontexten sichtbar und gleichzeitig wird Wissen, das verloren gehen kann, zwischen Generationen vermittelt.
2020 gestalteten die Lesebürger*innen gemeinsam mit Programmierer*innen eine eigene digitale Welt, die Elemente aus den Gärten und Parks von Burg Hülshoff und dem Haus Rüschhaus zeigen. Mit einem Avatar können sich Besucher*innen rund um die Uhr über die 2D-Welt bewegen und spielerisch verschiedene Aktionen entdecken – Blog-Beiträge der Lesebürger*innen, einen Lyrik-Pfad, Droste-FM-Beiträge, ein Lagerfeuer, an dem alle zusammenkommen können und ein eigenes Haustier, das immer folgt. Treffen sich User*innen in der Welt, öffnet sich ein Fenster mit Bild und Ton, sodass ein persönlicher Austausch möglich wird. So ist eine Digitale Welt entstanden, die für Mitleserunden, Schreibworkshops oder offene Treffen genutzt werden kann.
Junge Burg
Die Junge Burg ist der Ort am CfL für junge Menschen. Sie bringt Künstler*innen und junge Menschen zusammen. Gemeinsam entwickeln sie künstlerische Projekte, die sich ausgehend von den Texten und Orten der Dichterin Droste die Frage stellen: Was hat das alles heute mit mir und meinem Leben zu tun? Darüber schreiben sie, performen Gedichte, erfinden Musik, bewegen sich durch das Museum oder erfinden futuristische Versionen der Burg in einer digitalen Welt. Die Teilnehmer*innen können in den laborhaften Workshops ihre Kreativität in verschiedenen Formaten ausleben und auf die Suche nach ihrer eigenen künstlerischen Ausdrucksform gehen.
In den letzten fünf Jahren entstanden zahlreiche Projekte. 2020 haben junge Performer*innen gemeinsam mit einem DJ, einem Tänzer und einem Regisseur im Droste Museum die performativ-tänzerische Führung WeDentity entworfen. Im gleichen Jahr schrieben Teilnehmer*innen in einem Lyrik-Workshop eigene Lyrik und programmierten gemeinsam mit den Code Girls eigene Chatbots, die mit Lyrik von Droste und eigener Lyrik der Teilnehmer*innen antwortete. Mehrere digitale Schreiblabore zu Themen wie Queeres Schreiben, Verschwörungserzählungen und Lyrik belebten die Junge Digitale Burg. Dieses digitale Jugendzentrum hat das Studio für unendliche Möglichkeiten gemeinsam mit jungen Menschen in einem Virtual-Reality-Workshop programmiert und entworfen. Im Virtuellen Zukunftslabor fragten sich Teilnehmer*innen, ob coden nicht auch schreiben bedeutet und wie sie eine neue Sprache, die Programmiersprache, lernen können.
An erster Stelle steht in den Projekten, das Erbe nicht in die Gegenwart zu übersetzen, sondern vielmehr sich eine Zukunft zu imaginieren. So wird auch Digitalität lesbar, Coding zur Sprache und langfristig eine digital literacy erforscht.
Partizipative Angebote und Digitale Welten können Barrieren abbauen und somit Zugänge schaffen – Zugänge zu Veranstaltungen, Dialog, aber auch zu Text, Themen und anderen Menschen. Als ein Ort der Versammlung, bietet das CfL Möglichkeiten der Teilhabe, für alle, die mitmachen wollen und so wirksam werden können.
Für das CfL ist Literatur also ein Fest. Das heißt, Besucher*innen müssen vorab nichts gelesen haben, wissen oder kennen. Während der Performance, der Installation, dem Spaziergang oder dem Besuch im Museum oder der Gastronomie ist es möglich, die Vielfalt von Wörtern, Gegenständen, Bildern, Tönen, Buchstaben, Räumen und Menschen aufzunehmen. Künstler*innen, Besucher*innen und das Team des CfL öffnen die Burg gemeinsam der Welt und ermöglichen es, auch im analogen Raum lurken zu können. Was vor Ort bleibt – ob digital oder analog oder hybrid – ist die Fensterritzung von Annette von Droste-Hülshoff, die Ausstellung der Graphic Novels in der Jungen Digitalen Burg und das Wirken der Menschen vor Ort; von Publikum, Künstler*innen und dem Team des CfL. Das ist das Erbe, das sich immer wieder weiterschreibt. Und das transformiert und vermittelt (wird); in das Besucher*innen sich einschreiben und somit eine Vielheit an Perspektiven lesbar machen.